Das kleine Haus

In Landshut steht ein kleines Haus.
Ein Handwerker-Schwaiger-Bürgerhaus?
Störrisch steht es im Weg. Steht dort immer noch, obwohl die Zeit –so scheint es- alles daran gesetzt hat, es aus dem Weg zu räumen.

Dort, am Ende der Pfettrachgasse, am Knick der Wagnergasse, in einem Teilbereich des Nikolaviertels, zwischen Kloster und Isar, einem ehemaligen Gassenviertel, gewachsen und eng, auf einem hingeworfenen Schäuferl Kies, mitten im alten Überschwemmungs-gebiet, da steht es und stemmt sich dagegen.
Duckt sich in die ihm verbliebene allerletzte Ecke dieser Stadt. Der Krüppelwalm sieht heute aus, als hätte dem Haus jemand eins auf die Mütze gegeben.

Einst lag es am offen fließenden Pfettrachbach, der bald darauf in die Isar mündete. Zusammen mit dem Hammerbach bildeten beide die Schlagader für den großen Schmiedehammer und die Papiermühle die dort standen – für Gerber, Färber und alle unverzichtbaren, für die Stadt aber wegen ihrer Emissionen untragbaren Vorstadtgewerke.
Der Lauf des Pfettrachbachs ist heute verrohrt und nur eine Ahnung bleibt zurück, vom kraftvoll fließenden Wasser unter der Oberfläche.
Die Gassen im Gassenviertel waren früher nicht breit, nicht so breit wie heute und die den Fußgängern vorbehaltenen Wege, heute euphemistisch Bürgersteig genannt, nicht so schmal.
Aus der Gasse vor dem kleinen Haus ist eine Straße geworden, täglich zwängen sich heute viel zu große Fahrzeuge vorbei, müssen an der Engstelle innehalten, bis der Gegenverkehr passiert. Unerklärlich, warum die Straße nicht längst zumindest eine Einbahnstraße ist.
Das Haus vibriert bei jedem Auto, das schöne Kopfsteinpflaster ist laut – weil die Reifen laut sind, weil sich nicht jeder an die Geschwindigkeit hält, weil man wie in Italien hupen muss, damit die Serpentine sicher befahrbar ist.

Die Straße ist also breit geworden und die Kinder müssen trotzdem sicher nach Seligenthal in die Schule. Ein neuer Fuß-gängerweg wurde zwischen das Haus und die Straße gebaut. Das Haus hat dafür einen großen Fetzen Grundstück abgegeben.
Aus dem Vorgarten ist heute nur noch ein schmaler Grundstücksstreifen zur Wagnergasse übrig. Wegen der Anforderung an die Entwässerung steht der neue Fußgängerweg hoch gegen die alte, tiefliegende Gartenebene des Hauses.

Die Pfettrachgasse endet an der Ostfassade. Abrupt und gerade so, als wäre das Haus an dieser Stelle nicht mehr lange vorgesehen. Der Asphalt der Straße reicht unmittelbar bis an den Außenputz, die Mühe für ein Bankett, einen Granitstein, einen Grün- oder Kiesstreifen hat sich der Asphaltierer nicht gemacht. Man kann gar nicht anders als sich vorzustellen, wie man das Haus endlich abreißt und die direkte Verlängerung und Einbindung in die Wagnergasse herstellt. Endlich.

Im Westen, wo früher die Abendsonne durch die kleinen Fenster schien, haben die fleißigen Stromversorger eine Reihe plastiküberzogener Elektroschaltkästen gestellt. Jeder neue Anschluss erhält einen eigenen Kasten, kein Kasten gleicht dabei dem anderen.
Konnte man früher aus dem Haus in den Verlauf der Wagnergasse blicken, sieht man heute die graue, wettergegerbte, hässliche Rückseite dieser Kästen.

Im Norden wurde der alte Stall längst abgerissen und ersetzt. Durch einen weit höher aufragenden Bau, ein grenzständiges Reihenhaus, mit neuen Details, selbstbewusst, mit neuer First- und Trauflinie, die sich keinen Deut um die Vorgaben des kleinen Hauses scheren. Auch hier scheint es als warte man darauf, endlich, endlich weiterbauen zu dürfen, oder besser, nach dem Abriss des kleinen Nachbarn Fenster in die Brandwand schlagen zu können. Es wäre eine richtige Schaufassade in neuer Straßenflucht geworden!

Von Süden nähert sich die Straße mit den Autos.
Im Osten asphaltiert sich die Pfettrachgasse ans Haus, fast schon durchs Haus.
Im Westen versperren Schaltkästen den Blick.
Im Norden hat es Stall und Heuboden verloren und einen muskelbepackten, jungen Nachbarn beigestellt bekommen.
Aber noch steht es. Das Bauernhausfragment.
Obwohl es im Inneren noch viel mehr ertragen musste.

Die Außenwand ist aus Holz. Es ist ein sehr altes Haus. Ein Landshuter Holzblockhaus, dessen Bohlen aus dem Voralpenland stammten und mit Flössen herangeschafft wurden.
Die Jahresringe sind eng, das Holz ist ein schönes Holz, dort, wo es nicht morsch geworden ist, an erfreulich wenig Stellen.
Die Baumstämme wurden 1486 geschlagen, zu diesem Zeitpunkt war einer davon 392 Jahre alt.

11 Jahre nach der Landshuter Hochzeit.
6 Jahre vor der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus.
9 Jahre vor dem Pestjahr und im gleichen Jahr als das Heilige römische Reich deutscher Nation gegründet wurde im Spätmittelalter, nur 50 Jahre nach dem ältesten Blockhaus in Bayern wurde das kleine Haus von versierten Zimmermännern errichtet. Vielleicht ist es sogar weit und breit das älteste Blockhaus mit einem ersten Obergeschoss aus Blockbohlen. Wer sich damals Blockbohlen leisten konnte war begütert. Die meisten konnten sich nur den üblichen Ständerbau leisten.

1990 wurde ein Eingriff vorgenommen, der das Haus in seiner Statik erschüttert hat.
Bevor in dieser Zeit alle Innenwand-oberflächen mit Gipskarton verkleidet wurden, alle schiefen Wände über vorgesetzte Schalen begradigt wurden, Tapeten aufgebracht wurden, musste man gesehen haben, dass das Haus ein Blockhaus ist.

Trotzdem wurden Fenster in den Block geschlagen, ohne Sinn und Verstand, entgegen aller statisch notwendigen Sorgfalt, gegen alle Zimmermannskunst. An der oberen und unteren Bohle lässt man seit dem ersten altgermanischen Windauge, dem Ur-Großvater unserer Fenster, in der Blockwand die Hälfte des Querschnitts stehen. Damit das Fenster eingespannt wird. Und das Haus immer noch hält. Nicht hier, nicht in den 90er Jahren. Dort schneidet man die Blockwand, als wäre es homogen bewehrter Beton.
Eine lasttragende Blockwand zersägt man nicht ohne vorher zu wissen, wo die Last hinfließt.

Aber das war den Fensterschneidern egal, nur eines war wichtig, die Fensterbänke dieses alten kleinen Hauses mussten auf einer horizontalen Linie liegen, exakt waagerecht, gerade. Aber das Haus ist schief und das seit hunderten Jahren. Es mag einst exakt und maßgenau und lotrecht errichtet worden sein, aber die Überschwemmungen, der jahrhundertealte Wechsel von Unterspülung und Unterfangung, ist eben nicht vereinbar mit der glatten Fläche, dem rechten Winkel, der Wasserwaage. Das Haus wurde krumm und krümmer.
Genau so, wie eben alte Menschen auch ein wenig krümmer gehen und stehen.

Nachdem die neuen, geraden Fenster eingeschnitten waren, wurde die Schiefe des Hauses natürlich überdeutlich.
Und wurde als inakzeptabel gesehen.
Fast alle alten Decken-Balken wurden entfernt, beschnitten, fragmentiert.
Die Tram- und Riemlingsdecke bis auf wenige Quadratmeter herausgerissen. Das uralte, geflößte Tannenholz wurde verwundet, zerpflügt, um Platz zu machen für das frische noch feuchte Baumarktfichtenholz der Unterkonstruktion, für die einlagige Gipskartonplatte der Wandverkleidung, die sich nun im Erd- und Obergeschoss als überfette weiße Schminkspachtel auf die alten Runzeln legt und versucht hatte, aus einer in Würde gealterten Figur einen jungen Kasper zu machen.

Die neuen Fenster nahmen keine Rücksicht auf die alten Balken und die alten Fenster.
Sie sind größer, breiter, unproportioniert und legen sich feist über die zierlichen Bestandsöffnungen, überlagern sie, verdrängen sie. Aber eben nicht ganz. Wie sich das Haus noch im Fragment zeigt, zeigen sich –gottlob- die alten Fenster noch im Fragment. Mal ist es nur eine Ecke, mal eine ganze Laibung, und oh Wunder: hinter der Verkleidung taucht eine völlig intakte, notdürftig mit Brettern verschlossene und vollständig erhaltene Fensteröffnung auf. So haben sie alle ausgesehen.

So werden sie alle wieder aussehen.

M. Stenger
Juli 2019