Drei Verwandlungen
der Gastgeb
Transformation I
Das alte Haus kam aus einer holzreichen, hochgelegenen Gegend im bayerischen Oberland nach Landshut. Die Jahresringe der Stämme, aus denen die Balken sind, sind eng und regelmäßig gewachsen.
Das Haus war sein eigenes Transportmittel, ein Floß, das isarabwärts München passierte und darüber hinaus noch andere Waren, Güter, vielleicht auch Menschen transportiert haben mag.
Geflößtes Bauholz, so stellte man damals fest, zeigte sich ganz besonders resistent gegen den Befall mit Schädlingen.
Das Haus kam im Jahr 1486 über die Isar nach Landshut und dort, wo es anlandete, wo heute das Ländtor steht, das Tor zur Stadt vom Fluss her, war die Reise zu Wasser beendet.
Irgendwo auf dem kurzen Weg vom Ländtor in Richtung Seligenthal an den Bauort, vielleicht sogar vor Ort selbst, wurde das Holz behauen. Aus den entrindeten Stämmen des Floßes wurden rechteckige Balken, die verbunden, verkämmt und gestapelt werden konnten, nach einem komplizierten, konstruktiv anspruchsvollen Stecksystem, das die besten Zimmerer beherrschten.
Wundersame Verwandlung: aus dem Transportmittel wurde Bauholz, das von einem Zimmermannstrupp verarbeitet wurde, der an den Seligenthaler Dachstühlen oder gar am kurz vorher errichteten Satteldach der Martinskirche seine Kunst gewirkt haben mag.
Transformation II
Das Haus bestand aus Stube, Kammern und Wirtschaftsteil, hatte Platz für Gerätschaften, Kleinvieh und Tauben. Es war Handwerkerhaus, Bauernhaus, Gasthaus und Wohnhaus, weil es durch seine Konstruktion und Typologie auch unter sich ändernden gesellschaftlichen Umständen weiter genutzt werden konnte. Es gehörte einst zum Kloster, dann übernahmen es Handwerker und Bürger, die das Haus pflegten und instand hielten, bis es sogar reiche Patrizier, vielleicht zur Verpachtung und Versorgung ihrer großen städtischen Hausstände, erwarben und gegenseitig vermachten. Dann wurden die Zeiten schlechter, die Lage vor der Stadt war unsicher. Kriege, Pest und Hungersnöte waren zu überstehen. Der Wert des Hauses verfiel, den Patriziern folgten einfache Bürger und Handwerker, schließlich zogen Tagelöhner ein, gefolgt von Kleinbauern, die dort Schwaigen betrieben.
Die Zeiten beruhigten sich, Bürger übernahmen das Haus. Sie legen Hand an, es wird investiert, der Wirtschaftsteil wird abgetrennt, von jetzt an ist und bleibt es Wohnhaus.
Irgendwann auf diesem Weg wurde aus einem Haus vor der Stadt ein Stadthaus.
Die alten Butzenfenster mit inneren Holzschiebeläden ersetzte man durch zeitgemäß konstruierte Fenster. Die Öffnungen wurden vergrößert, Licht sollte hinein, der Blick endlich hinausgehen.
Und das Holz der Fassade wird im Erdgeschoss mit einer Sumpfkalkschicht versehen und mit Rotpigment gefärbt.
Dadurch entsteht mit einem Mal Kontext und Umgebung. Das Wohnhaus tritt in Kontakt mit der Stadt. Das Rot, das Ziegelrot der Stadthäuser wird übernommen.
Denn Ziegel bedeutet Stadt, Holz war das Land.
Dies ist die zweite große Verwandlung des alten Handwerker- und Bauernhauses in der Pfettrachgasse 7.
Transformation III
Im Laufe der Jahre verstaubte, verdreckte, vergilbte das Haus, füllten sich alle Ecken und Zwischenböden, Fugen und Ritzen mit den Resten alltäglichen Gebrauchs. Zwischen den Deckenlagen des Obergeschosses, auf der alten Lehmschlagdecke direkt unter dem Speicher türmten sich verbackene Schichten aus Asche, Stroh und Heu, zusammen mit Werkzeugen, vergessenen Gegenständen ehemaliger Bewohner, Flaschen, verschmutzten Bildern, Ziegelbruch.
Dann, zu Beginn unserer Automoderne, unserer heutigen Ölzeit, angesichts einer Fülle neuer, moderner, scheinbar einzig richtiger Materialien, wurde noch einmal investiert, wurde das Haus, das seit fünfhundert Jahren stand, modernisiert – und dabei fast zerstört.
Weil man eben nicht reparierte und pflegte, sondern Substanz bis an die Grenze der Irreparabilität zerstörte um anschließend das Ergebnis über Bekleidung der Oberfläche zu kaschieren.
Aus Unwissen, vielleicht auch aus der Ignoranz gegenüber dem Alten, scheinbar Überkommenen, hat das 20. Jahrhundert dem Haus Masken und Verkleidungen verpasst, es bis zur Unkenntlichkeit versteckt. Seine Eingeweide wurden entfernt, die nun hinter den Masken liegende Konstruktion ignoriert oder missachtet. Die Fenster wurden noch einmal größer, ohne auf die Balkenlage des Blockbaus Rücksicht zu nehmen. Das Haus ächzte und wand sich unter den nun veränderten Kraftverläufen, aber wie durch ein Wunder hielt es stand. Hielten die meisten der Verbindungen durch, verlagerten sich Kraftströme, halfen sich Balken untereinander, überbrückten die Wunden und großen Schäden, die die Eingriffe, die ohne Handwerkskunst und Sachverstand, ohne Materialkunde und Demut vor der Kunst der Alten vorgenommen wurden. Dort, wo bisher vertikale Lasten eingeleitet wurden, schnitt man brutal Fensteröffnungen in den Block. Dort, wo Deckenbalken die Sparren zusammenzurrten, entfernte man ganze Meter daraus, beilte und sägte die fünfundertjährigen Balken grob auf den halben Querschnitt zurück.
Sparren wurden unsachgemäß ersetzt, Hahnenbalken und Kehlbalken herausgeschnitten, um einen neuen Kaminzug hindurchzuführen.
Am Ende wurde alles zugedeckt, maskiert, mit Gips und Gift, mit Kunststoffen und staubenden, versottenden, krebserregenden Innendämmungen. Mit Kunststofffolien und Zementputz wurde dem Haus die Luft abgeschnürt, wurde die Dampfdiffusion verunmöglicht. Ausdünstungen aus den neuen Oberflächen von Spanplatten, Einbaumöbeln und Lasuren füllten die Räume. Es war so, als wäre das Gebäude in einen lähmend-toxischen Todesschlaf verfallen.
Das Haus wurde zunehmend obsolet. Der Kontext, die städtische Umgebung brach mit ihm.
Die davor liegende Wagnergasse wurde verbreitert, um den Schulkindern nach Seligenthal einen sicheren Weg zu ermöglichen. Der alte Vorgarten des Hauses wurde dafür geopfert. Die Kanäle der alten Pfettrach, die einst um das Kloster Seligenthal und das Haus herum geführt hatten und die die früheren Bewohner vielfältig nutzten, waren zu diesem Zeitpunkt schon lange verrohrt. Hinter dem Haus, an der Stelle des alten Wirtschaftsteils, entstand ein neuer Wohnbau, mit höherer Traufe und weit höherem First.
Große, graue Kunststoffschränke für Telefon und Strom wurden vor das Haus gesetzt, wie um es zu verstecken. Auf der anderen Seite asphaltierte die Stadt die Pfettrachgasse fugenlos an den Sockelputz des Hauses, so als würde man damit rechnen, dass nun recht bald der Durchstich gelingt und nach dem restlosen Abbruch endlich über das Grundstück hinweggeteert werden kann. Die Stadt der Moderne begann das Haus selbst abzuwürgen. In den 60er Jahren erwirkt der Eigentümer eine Abrissgenehmigung, die von der Stadt Landshut erteilt wird. Vielleicht aus Geldmangel, schwerlich aus nostalgischen Gründen wird davon zum Glück kein Gebrauch gemacht.
Einige Jahre regte sich noch Leben in dem Haus. Irgendwann stand es leer.
533 Jahre nach der Fällung der 300 Jahre alten Bäume, aus denen das alte Haus zusammengesetzt wurde, wusste man fast nichts mehr darüber. Die Denkmalliste schrieb es vorsichtig in das beginnende 19. Jahrhundert.